KARSTKALT – Fall 4: Die Steinerne Jungfrau
Zuvor:
Vogl kehrt zurück – nicht erholt, sondern entschlossener denn je.
Er will diesmal alles selbst prüfen. Keine Presse, keine Kollegen, keine Ablenkung.
Nur der Galgenberg, der Wind – und die Frage, wer diesen Brief den er erhalten hatte geschrieben hat.
Er weiß, dass er beobachtet wird. Und dass der Absender mehr weiß, als er vorgibt.
Doch eins ist klar:
Am Galgenberg beginnt etwas, das weit tiefer reicht – in die Geschichte des Ortes, in die alten Familien, und in Vogls eigene Vergangenheit...
Blaulicht zuckte durch das obere Püttlachtal in Pottenstein. Unterhalb des mächtigen Felsturmes der "Steinernen Jungfrau" standen die Einsatzfahrzeuge, das Licht der Scheinwerfer brach sich an den Bäumen. Der Felsen ragte fast siebzig Meter hoch, schmal und scharfkantig, wie eine Wächterin, die über das Tal blickte.
Kommissar Lorenz Vogl trat aus dem Wagen und sog die Luft ein. Sie war kalt und feucht. Dieses Tal kennt keine Sonne im Herbst, dachte er. Es dauert ewig, bis der Frühling hierher zurückkehrt. Selbst an klaren Tagen lag ein Schatten über der Schlucht, der sie düster und verschlossen wirken ließ.
Und doch – im Sommer kamen Scharen von Touristen. Wanderer, Familien, Einheimische. Sie nannten das Püttlachtal „beschaulich“ und „unberührt“. Vogl sah es anders. Für ihn hatte der Ort etwas, das in den Knochen kroch. Ein Idyll, das vorgab, harmlos zu sein – und doch unheimlich wirkte, wenn die Sonne sich einmal zurückzog.
Vor einer alten, stabilen Scheune wartete Sailer. „Chef, Sie müssen das sehen.“
Die Scheune roch nach Heu und Holz, keine Spur von Verfall. Doch auf dem Lehmboden war ein Kalkkreis gezogen. In der Mitte: ein Bündel Stroh, durchtränkt mit Blut. Daneben ein kleiner Kranz aus Zweigen, rote Bänder flatterten leicht im Zugwind, der durch die Ritzen drang.
Und ein Umschlag.
Vogl zog Handschuhe an, öffnete ihn. Dieselbe Schrift wie zuvor, krakelig, verstörend:
„Die Jungfrau schweigt, doch ihr Blut spricht.“
Sein Blick wanderte hinaus durch die Tür zur Felswand. Der Blaulichtschein ließ den Turm wie eine dunkle Gestalt wirken. Vier Fälle. Vier Orte. Und immer dieselbe Handschrift. Immer derselbe Wahnsinn.
„Das ist ein Ritual,“ murmelte Sailer.
„Nein,“ entgegnete Vogl, „das ist eine Inszenierung. Und wir sind die Zuschauer.“
Ein Paar aus Nürnberg, blass und sichtlich erschüttert, wurde hereingeführt. „Gestern Abend waren wir hier,“ begann die Frau zögernd. „Da stand eine Gestalt am Fuß der Jungfrau. Ganz still. Kapuze tief im Gesicht. Nur die Hände – sie waren rot.“
„Rot?“ fragte Vogl scharf.
„Ja. Vielleicht Blut, vielleicht Farbe. Und dann… dann hörten wir eine Stimme. Ein Mann. Er sagte: ‚Die Jungfrau wartet nicht ewig.‘ Danach sind wir weggerannt.“
Sailer notierte nervös. „Chef, es passt. Gaisloch, Schottermann, Galgenberg… und jetzt die Jungfrau. Er geht systematisch vor.“
Vogl schwieg, ging an die Wand der Scheune. Dort entdeckte er ein zusammengefaltetes Stück Pergament, fast unsichtbar zwischen zwei Brettern eingeklemmt. Vorsichtig zog er es heraus. Darauf: eine Skizze. Ein Strichmännchen mit Schlinge um den Hals. Daneben zwei gekreuzte Schwerter.
„Was soll das heißen?“ fragte Sailer leise.
Vogl drehte die Zeichnung. „Es heißt, dass er uns schon den nächsten Schritt zeigt. Der Henker hat seinen Pakt geschlossen.“
Er steckte das Pergament ein. Der Wind rauschte durch die Kronen, und der Fels ragte schwarz in den Himmel. Für einen Moment glaubte Vogl, eine Gestalt auf dem Rand zu sehen – unbeweglich, lauernd. Doch als er blinzelte, war nur der Fels da, kalt und unnachgiebig.
„Sichern Sie alles,“ befahl er. „Und kein Wort an die Presse. Wenn die Touristen Wind davon bekommen, haben wir morgen ein halbes Volksfest hier. Das Tal ist beliebt – aber heute Nacht zeigt es sein wahres Gesicht.“
Er ballte die Faust.
Vier Fälle. Vier Zeichen.
Und die nächste Botschaft bereits angekündigt.
Dies war kein Spiel.
Dies war ein Ritual – und es verlangte ein Opfer.
Fortsetzung folgt!